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Glauben und Kirche

Gedanken zum Sonntag

für den 14. Mai 2017 (Muttertag)
"Mama, erzähl mir eine Geschichte"
von unserer  Gastautorin Ilse W. Blomberg

Mama, erzähl mir eine Geschichte!

Als meine Kinder noch klein waren, liebten sie es, Geschichten vorgelesen oder erzählt zu bekommen. Es waren Momente wunderbarer Zuwendung und Ruhe.

Eine „Gute Nacht Geschichte“ am Bett bis die Augen zufielen, ein Märchen am Krankenlager, eine Wintergeschichte gegen die Dunkelheit und Geschichten in der Wartezeit auf  Weihnachten hin. „Mama erzähl mir eine Geschichte.“

Besonders begehrt waren selbst erfundene Geschichten. Mein ältester Sohn liebte meine Geschichten über einen unerschrockenen Seemann, wenn er in der Badewanne saß. Und meine leicht dahin erzählte Geschichte wurde Wort für Wort von ihm aufgesogen. Wenn er  die Worte des Seemannes dann beim nächsten Badegang noch einmal hören wollte, waren sie mir nicht mehr so präsent wie ihm. „Das hat der Seemann ganz anders gesagt, Mama, ganz anders! Das war ein anderes Wort!“ Und leicht enttäuscht half er  mir dann dabei, die richtigen Worte wiederzufinden..

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Die Zeit, in der er mich bat, ihm Geschichten zu erzählen, war lange schon vorbei. Er war inzwischen dreißig Jahre älter geworden.

Doch eines Tages an einem ganz besonderen Ort  hörte ich zu meinem großen Erstaunen  wieder die Bitte: „Mama, erzähl mir diese Geschichte“. Diesmal nicht eine, sondern diese Geschichte.

Was war geschehen? Wie kam es zu der Bitte meines erwachsenen Sohnes?

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Arbeitsgrundlage einer Fortbildungstagung, an der ich teilnehmen wollte,  war die Josefsgeschichte aus dem Alten Testament. (Nachzulesen im 1. Buch Mose.)

Unser Professor empfahl uns Religionslehrern, uns die „Josefswand“ in Stuttgart-Untertürkheim anzusehen.

Der Künstler HAP Grieshaber (Maler und Holzschnitzer) hat in der evgl. Stadtkirche St. Germanus 1969    eine Bilderwand entstehen lassen. Sie ist gefüllt mit 36 Linoleumtafeln , jede Tafel 140 x 117 cm groß. Es ist eine Schiebewand, die den Kirchenraum  teilt. Sie umfasst 9m Breite und 7m Höhe.

Sein Werk nannte der 1981 verstorbene Künstler „Josefslegende“.

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Da mein Sohn zu der Zeit in Stuttgart arbeitete und lebte, bat ich ihn, mit mir nach Untertürkheim zu fahren, denn mich interessierte diese Bilderwand.

Wir fuhren an einem trüben, kalten Tag von Stuttgart nach Stuttgart-Untertürkheim. Wir fanden die Kirche, gingen durch eine seitlich angebrachte Tür und standen in einem recht dunklen Kirchenraum. Kein Sonnenstrahl erhellte die Kirche an diesem Tag und kein günstiges Raumlicht erwartete uns. 

Wir mussten uns mit einem 5-Minutenlicht  begnügen. Trotzdem  -  die Bilderwand mit ihren wenigen Farben wirkte auf uns. HAP Grieshaber gelang es,  in dem ihm eigenen Stil, uns die biblische Geschichte eindrucksvoll zu vermitteln.

So setzten wir uns in die erste Reihe vor die Tafeln.

Keiner von uns redete. Wir waren mit dem Betrachten voll  angefüllt.

Dann sagte mein Sohn in die Stille hinein: „Mama, erzähl mir doch diese Geschichte von Josef. Ich habe keine Ahnung mehr von dem!“

Und ich erzählte. Erzählte aus dem wechselvollen Leben des Josef. Die 36 künstlerisch hervorragend gestalteten Bilder halfen mir dabei. Mein Sohn hörte zu, schaltete alle 5 Minuten das Licht wieder an und drängte mich nicht zur Eile.

Und ich erinnerte mich an all die ruhigen, ihm zugewandten Momente in seiner Kindheit.

Hier erlebten wir noch einmal so einen Moment.

„Mama, erzähl mir eine Geschichte.“

Ich wünsche Ihnen einen Sonntag mit alten und neuen Geschichten. Und wünsche uns, dass alle Erzählerinnen und  Erzähler darin nicht müde werden, zu lesen, vorzulesen, zu erzählen.

 

Ihre Ilse Blomberg  (Autorin)

Ilse W. Blomberg